Es begab sich zu der Zeit, als Salomon herrschte und zwei Frauen aufgeregt zu ihm eilten. Kreischend zerrten sie ein Baby in den Thronsaal, wo Salomon Recht sprach. Sie beschimpften sich gegenseitig, fuchtelten mit den Armen, wurden tätlich untereinander und hätten sich gegenseitig noch mehr Leid angetan, wenn sie die Wachen nicht zurückgehalten hätten.

Salomon erbat sich Ruhe. Was denn der Anlaß ihres Streites sei, begehrte er zu wissen. Aufgeregt berichteten die beiden, es ginge um ihr Kind, die jeweils andere behaupte, daß sie die legitime Mutter des Kindes sei. Jede der Frauen behauptete aber von der anderen, daß sie die Unwahrheit spräche.

Salomon versuchte, die Sachlage aufzuklären und befragte auch die anderen Anwesenden, ob jemand wisse, welcher der beiden Frauen nun dieses kleine Baby gehöre.

Nachdem aber nicht geklärt werden konnte, wem denn das Baby nun gehöre, brach Salomon die Diskussion ab und sprach, er werde nunmehr das Urteil verkünden. Gebannt und erwartungsvoll sahen ihn die Frauen an. Nun, so sprach Salomon, da Ihr Euch nicht einigen könnt, wem das Kind gehört und auch ich nach all den Schilderungen nicht zu ermessen vermag, welche von Euch beiden nun die legitime Mutter sei, komme ich nunmehr zu keinem anderen Ergebnis als dem, daß der Henker nunmehr kommen möge und das Kind in der Mitte teile, so daß jede von Euch eine Hälfte des Kindes erhalte.

"Nein, nein!" schrie eine der beiden Frauen, "alles, nur das nicht. Dann soll es die andere haben!" Und genau diese Reaktion wollte Salomon provozieren, und so fügte er hinzu: "Du bist die wahre Mutter, denn eine wahre Mutter wird niemals ihr eigenes Kind teilen lassen." So sprach Salomon und ließ das Kind dieser Frau übergeben.

Diese Geschichte gilt nun als Inbegriff der Weisheit und Gerechtigkeit, da es Salomon hier gelungen ist, auf indirektem Wege ein "richtiges" Urteil zu fällen. Soweit die herkömmliche Interpretation.

Was aber, wenn Salomon irrte? Was aber, wenn die unrechte Mutter zu der Überzeugung gelangte, daß der Streit nun auch nicht so weit geführt werden müsse, daß das Kind geteilt und damit getötet würde? Was aber, wenn ihre Boshaftigkeit hier eine Grenze erreicht hätte, wo sie trotz allen Begehrens dem Kinde gegenüber doch noch einlenkt, weil sie das Spiel nicht gar zu weit treiben möchte? Ist es nicht so, daß jemand, der einen Frevel begeht, irgendwo doch eine Schranke spürt, einen Rest an Anstand und Sittlichkeit, der ihn den schlimmsten Schritt verhindern läßt? Was aber, wenn die unrechte Mutter einfach schneller reagierte, viel schneller schreien konnte, die andere möge das Kind haben, während die wahre Mutter noch gelähmt vor Entsetzen nach dem Urteil in Sprachlosigkeit versunken ist?

All dieser tiefgreifende Zweifel scheint Salomon nicht gekommen zu sein in seiner Überzeugung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Doch sind alle diese Überlegungen nicht mindestens genauso wahrscheinlich und möglich, wie die ursprüngliche Bedeutung des salomonischen Urteils?

Und so steht das salomonische Urteil für eine vage und zweifelhafte Entscheidung, die zwar eine gewisse Psychologie enthält, aber nicht zwangsläufig das richtige Urteil provoziert.

So endet die Geschichte vom salomonischen Urteil mit der gleichen Unsicherheit, wie sie begonnen hat. Die Lage war unklar und ist unklar, doch eine Entscheidung ist getroffen. Ob es die richtige oder die falsche war, ist jedoch völlig offen.