Die Welt ist komplex.
Die Wahrheit ist einfach.





Prolog - ein Sternenstreif

An einem klaren Novemberabend im Jahre 2001 beobachtete ich ehrfürchtig den Sternenhimmel. Ganz allein stand ich am Strand, nur der gestirnte Himmel über mir. Allein im All und doch wunderbar verbunden mit allem.
Es war eine wundervoll klare Nacht, eine lyrische Nacht:


            Wenn die Sterne munter blinken
            kehr ich in mich ein
            lass mich in die Träume sinken
            sinne über Sein und Schein



Das wilde Brausen der wogenden Nordsee, die milde Temperatur und der wolkenlose Himmel verliehen dem Augenblick etwas Feierliches. Nach und nach zeichneten sich am Firmament die verschiedenen Sternbilder ab. Und plötzlich lief ein freudiger Schauder über meinen Rücken: Ich entdeckte eine Sternschnuppe und wünschte mir sogleich ... Ach ja: Das darf man ja nicht verraten, sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung. Der feierliche Augenblick warf fast zwangsläufig die guten alten philosophischen Fragen auf nach dem Woher, Wohin, Weshalb, Seit-wann, Wie-lang, Warum? Diese wenigen, genauso grundsätzlichen wie schwierigen Fragen werden seit Jahrtausenden immer wieder von neuem in Augenblicken wie diesem erzeugt. Wer erzeugt sie nur? Was erzeugt sie nur? Sie scheinen mit unserem Bewusstsein untrennbar verknüpft zu sein und werden aufgeworfen, seitdem es die Menschheit in der vorliegenden Form gibt.

Aber so vielschichtig wie die Welt, so unterschiedlich sind auch die Antworten der Philosophen und Denker auf diese wenigen Fragen. Ausgelotet aus den verschiedensten Blickwinkeln, unter den verschiedensten Ansätzen und untermauert mit den überzeugendsten Argumenten - oft für völlig konträre Positionen. Die reichhaltigsten Facettenwelten sind Ergebnis der Beschäftigung mit diesen Fragen. Und die Philosophen haben alle mit ihren Antworten ein wenig Recht - und doch irren auch alle. Wie ich fast traumversunken über diese Fragen nachgrübelte, erblickte mein Auge plötzlich eine weitere Sternschnuppe. Ein seltsames Kribbeln verspürte ich plötzlich und wie magisch angezogen verfolgte ich den langen, nicht enden wollenden Schweif, immer auf den unvermeidlichen Augenblick wartend, dass dieser aus dem Nichts kommende Lichtstreifen sich auch im Nichts des unendlichen Schwarz auflöse. Doch dieser kraftvolle Lichtstrahl schien kein Ende nehmen zu wollen. Geradlinig und unbeirrt setzte er seinen Weg fort.

Und was nun folgte, ging alles unglaublich schnell. Mir ward, als käme die Lichtspur unmittelbar auf mich zu. Ein ungewöhnliches Vibrieren erfasste meinen Körper und ich sah einen kurzen hellen Blitz. Es geschah so rasend geschwind, kaum wahrnehmbar, dass es auch Einbildung oder eine kurze Irritation des Auges hätte gewesen sein können. Das Geschehen erfolgte zu schnell, zu fein, zu ephemer. Mir ward - oder irrte ich? - als gäbe es ein kurzes Aufleuchten an dem mir gegenüberliegenden Felsen.

In einem unbestimmbaren Zustand der Benommenheit musste ich wohl gleichsam automatisch zu der vermuteten Stelle des Einschlags hingeschritten sein. Ich konnte dort nichts bemerken, fixierte aber mit den Augen laufend und intensiv den Punkt, an dem ich den Einschlag wähnte. Plötzlich wich mein Zustand der unbestimmten Aufgeregtheit und machte einer kühlen Ernüchterung Platz: "Blödsinn!", dachte ich, "Sternschnuppen sind Sternenstaub, der sämtlich in der Atmosphäre verglüht. Selbst Kleinmeteore verglühen auf dem Weg durch die Erdatmosphäre, bevor sie den Erdengrund erreichen, und der zarte Lichtfaden, den ich am Himmel entdeckt habe, kann keinesfalls zu einem Meteor solchen Ausmaßes gehören, dass er hier vor mir eingeschlagen wäre. Alle Sternschnuppen, die wir auf der Erde wahrnehmen, verglühen in den höchsten Schichten der Atmosphäre, also lange, bevor sie eine Chance hätten auf der Erde anzukommen. Der zarte Lichtstreif stammte von einem stellaren Staubkorn, und dieses kann die breite Atmosphäre niemals überwinden. Dies ist einfach physikalisch unmöglich."

Einem kindlichen Drang folgend strich ich über den Felsen an der Stelle, wo ich den "Einschlag" gewärtigte. Natürlich war da nichts Absonderliches. Ich benetzte meinen Finger und strich erneut darüber. Wieder nichts.

Leicht verträumt und gleichzeitig amüsiert über meine Naivität schlenderte ich nach Hause zurück, blickte etwas verständnisvoller ins leuchtende Firmament und begab mich in mein Arbeitszimmer. Ich nahm einen besonders umfangreichen Stoß Konzeptpapier zur Hand und dann - glaube ich - begann ich zu schreiben. Doch vorher blitzte in mir noch kurz die Frage auf: "Warum benetzte ich meinen Finger, bevor ich erneut die Stelle des ‚Einschlages' berührte? ......"
[...]




Die Empfehlung

"Wir, Chi und Psi, sprechen die Empfehlung aus: Die zeitparallele Untersuchung des Forschungsgegenstandes ‚Population Erde' fortzusetzen und weiterhin die dafür notwendigen Informationskapazitäten bereitzustellen.

Grundlage ist das Ergebnis unserer intensiven Untersuchung eines spezifischen Ereigniszusammenhangs im Rahmen der Forschungsreihe ‚Evolution intelligenter Populationen/Untersuchung spezifischer Ereigniszusammenhänge auf dem Planeten Erde im Sternnebel ‚Milchstraße'."

Der Wissenschaftsrat, der heute noch eine Vielzahl von wichtigeren Themen auf seiner Tagesordnung hatte, nahm diese Information nicht sonderlich interessiert auf. Der Vorsitzende, der das Höchstmaß an Autorität in sich vereinigte, deutete dann aber zur großen Erleichterung von Chi und Psi an, dass er noch weitere Ausführungen zu dieser Thematik wünsche. Erwartungsgemäß stimmten nun auch die übrigen Mitglieder des Wissenschaftsrats einem weiteren Vortrag von Chi und Psi zu - und so fuhren sie fort:
[...]





Irrlicht

Wie soll ich Chi und Psi, wie soll ich die Vertreter des Wissenschaftsrats beschreiben? Soll ich sie überhaupt beschreiben? - Denn ich fürchte, ich habe mehr einen vagen verschwommenen Eindruck von ihnen als eine annähernd klare Vorstellung. Eindruck, Abbild, ja, auch Beschreibung: Sind das nicht alles übersetzte Informationen? Der Eindruck, den der Schuh in feuchtem Lehm hinterlässt, reicht der, um den Schuh zu beschreiben? Der Kupferstich "Liebe, Tod und Teufel" von Albrecht Dürer: Was sagt uns dieses Abbild über die Beschaffenheit der Kupferplatte? Was nützt die Reflektion des Spiegels in der Dunkelheit? Wenn wir es auch nicht gerne hören mögen: Unser menschlicher Geist ist eine solche Dunkelheit. Denn für das, was es zu reflektieren gälte, fehlt uns die Leuchtkraft des Geistes.

Aber lechzt nicht jeder nach einem Bild der Wesen einer fremden Zivilisation wie hier der mysteriösen Einwohner des fernen Xylan? Konstruieren wir uns nicht allzu gerne irgendein Bild, und sei es auch noch so naiv wie die Vorstellung von kleinen grünen Comics-Männchen?

Schon der Versuch, Chi und Psi äußerlich zu beschreiben, ginge fehl. Jeder Vergleich mit uns Bekanntem würde falschen Bildern Vorschub leisten.

Emotionen in unserem Sinne fehlen. Die Vertreter von Xylan sind problemlösungs-, ja, erkenntnisorientiert. Emotionsähnliche Reaktionen werden aber zielführend eingesetzt. Und - da ich schon die Frage höre, was eine Zivilisation überhaupt macht, wenn sie alle Rätsel der Welt gelöst hat - auch sie sind Suchende. Auch sie haben Fragen. Da sie so viel mehr Antworten haben als wir, haben sie auch ungleich viel mehr Fragen. Auch sie haben die "Medusenproblematik" noch nicht gelöst: Mit jedem Problem, das sie meistern, jedem Haupt, das sie der Medusa abschlagen, wachsen neue Häupter, neue Fragen nach.
[...]





Die Promenaden

"Was mich stört", führte der Mittdreißiger Alexander Astero unvermittelt gegenüber seinem gleichaltrigen Freund und Gesprächspartner Michael Meinder aus, "ist, dass wir in unserer Gesellschaft immer nur in Funktionen gesehen werden. Der Arzt ist Arzt und nur das, der Bäcker ist nur Bäcker, der Beamte ist ausschließlich Beamter und so weiter. Es wird erwartet, dass jeder nur das mit seiner Funktion assoziierte Gebiet ausfüllt und nur die ihm zugedachte Spur verfolgt. Das Gleis, auf dem wir fahren sollen, ist der durch feste Vorurteile geprägte und durch tief verwurzelte Erwartungen unserer Umwelt vorgedachte Weg." Astero blickte empört und erwartungsvoll Meinder an. Dieser nickte nachdenklich.

Sie wussten nicht, wie lange sie so gesessen hatten, als sich schließlich Astero an seinen Freund Meinder wendete und ihn fragte: "Kennst du eigentlich Stephen Hawking, den erfolgreichen amerikanischen Physiker?"

Doch ohne eine Antwort abzuwarten, sprudelte er gleich weiter: "Ich bin derzeit völlig fasziniert von seinem früheren Buch ‚Eine kurze Geschichte der Zeit'. Dort beschreibt er die faszinierende Suche der modernen Physik und Kosmologie nach der Großen Einheitlichen Theorie, in der sämtliche heute noch widersprüchlichen Teiltheorien wie die Relativitätstheorie und die Quantentheorie widerspruchsfrei zusammengefasst sein sollen.

Die Welt besteht aus den Grundelementen Raum, Zeit und verschiedenen Naturkräften, deren Zusammenwirken bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Es ist das Bestreben der modernen Physik, die Elemente Raum, Zeit, Gravitation, schwache und starke Kernkraft sowie elektromagnetische Kraft als ein Gesamtsystem zu erklären und schließlich in einer großen Vereinigungstheorie die Urkraft aller Dinge zu entdecken und erklären zu können. Eine Weltformel wird gesucht, aus der sich alle bestehenden Kräfte ableiten lassen. Mit dieser Großen Einheitlichen Theorie wäre dann auch endlich eine umfassende Erklärung für den Ursprung, den gegenwärtigen Zustand und die vergangene wie künftige Entwicklung des Universums in seiner Gesamtheit möglich."

Noch ehe Meinder einen Kommentar abgeben konnte, fuhr er bereits fort: "Diese neuen Ansichten der Kosmologie sind wirklich faszinierend. Ich habe das Gefühl, dass sich in dieser Wissenschaft etwas Neues, etwas ganz Großes andeutet. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass man sich viel mehr mit solchen grundsätzlichen Fragen, die außerhalb unserer Alltagssorgen liegen, beschäftigen sollte. Wir erstarren in viel zu festgefahrenen Denkweisen und viel zu eingeschliffenen Verhaltensmustern. Vielleicht kommen wir da heraus, wenn wir uns unbefangen und offen möglichst viele andere Eindrücke verschaffen; wenn wir die wesentlichen Ansätze, die in verschiedenen anderen Disziplinen gewählt werden und dort erfolgreich sind, bei unseren scheinbar unlösbaren alltäglichen Fragestellungen mitberücksichtigen."

Meinder konnte sich diesen Argumenten nicht verschließen und so steigerten die beiden Freunde sich in ihrer Begeisterung. Jawohl, sie wollten dieses Eingesperrtsein in eine Schublade, dieses Abgestempeltsein in einer bestimmten gesellschaftlichen Rolle nicht akzeptieren. So vereinbarten sie, künftig weitere Sonntagsspaziergänge zu unternehmen, bei denen sie sich mit Fragen "über Gott und die Welt" - wie Astero scherzhaft sagte - beschäftigen wollten. Bedingung war nur, dass sie sich während dieser Auszeit nicht in die ‚Niederungen' des täglichen Arbeitsalltags begeben wollten. Der absorbierte ohnehin schon achtzig Prozent ihres Denkens. Nach einigen abwägenden Erörterungen kristallisierte sich auch ein Themenschwerpunkt heraus. Sie vereinbarten, nachdem Meinder seine Vorbehalte hintangestellt hatte, so genannte ‚Gedankenexperimente' zu kosmologisch-naturwissenschaftlichen Fragen durchzuführen.

"Du bist also der begnadete Naturwissenschaftler, obwohl du gerade mal ein Büchlein ‚Physik für Anfänger' gelesen hast", sagte Meinder mit leichtem Kopfschütteln, unterstützt durch eine abwertende Handbewegung.

"Nein. Das sicherlich nicht. Aber eigene Gedanken sind doch erlaubt!", rief Astero fast empört.
"Aber gerade Kosmologie: Ist das nicht zu schwierig, ja, zu vermessen?"
"Herausfordernd!", antwortete Astero schon wieder selbstbewusst. "Vielleicht sollten wir uns unserem Vorhaben entschlossen, aber ganz unbefangen nähern und es mit einem Motto des Multitalents Jean Cocteau halten ..."
"Du meinst den französischen Dichter?" " ... der außerdem auch erfolgreicher Maler, Komponist, Filmregisseur und Choreograph war. Er schrieb beispielsweise das Buch ‚Les Enfants terribles' und hat unter anderem auch den Film ‚Orphée' gedreht. Als man diesen faszinierenden Menschen einmal fragte, wie er das denn alles in einem Leben allein habe schaffen können, muss er geantwortet haben:
‚Es war unmöglich - deshalb habe ich es versucht.'

Beeindruckend, nicht wahr?" "Große Worte, die ein Erfolgreicher hinterher gelassen aussprechen kann."
"Wer nichts versucht, dem wird auch nichts gelingen."
"Auch wieder wahr."
"Also, Michael, bist du nun bereit dich auf solche Gedankenexperimente einzulassen?"
"Wenn du meinst. Wir können es einmal versuchen."
"Das hört sich gut an", stimmte Astero freudig zu, "dann fangen wir gleich nächste Woche an."
So vereinbarten sie schon für nächsten Sonntag zur Einstimmung das herausfordernde Thema "Neuere kosmologische Ansätze zur Entstehung der Welt".
Zu Hause angekommen, legte Astero eines seiner Lieblingsmusikstücke auf - Mussorgski/Ravel: "Bilder einer Ausstellung".
[...]





Anfang

Alles, was ist, ist Folge eines anderen. Alles ist ein immer währendes Entstehen, Werden und Vergehen. Dabei geht eines immer dem anderen voraus, aber keines ist ein Ursprüngliches im Sinne eines absolut Ursprünglichen. Jeder Anfang ist ein willkürlich gewähltes Ereignis. Was wir im Alltag als Anfang bezeichnen, ist eine Bewertung unseres Bewusstseins. Die Bewertung ergibt sich aus einem Vergleich qualitativ unterschiedlicher Zustände. Der vom Bewusstsein gewählte Anfang ist eine willkürliche Zäsur in einer Ereignisfolge. So ist das Wachsen einer jungen Pflanze wie die Geburt eines Kindes die Folge der Vereinigung von Keimzellen. Deren Entstehen lässt sich seinerseits über Kausalitätsketten in die Vergangenheit zurückverfolgen. Jeder Zustand ist also Folge. Alles leitet sich aus einem anderen ab. Jedem Entstehen geht ein Vergehen voraus. Jedes Vergehen folgt einem Entstehen und Werden. Der pflanzliche Keim ist der Blüte Vergängnis.

Alles ist in einem immer währenden Prozess begriffen. „Alles fließt“, wusste schon der griechische Philosoph Heraklit.

Damit kennen wir aus eigener Erfahrung nur Kreisläufe; konkreter müssten wir sagen: sich dynamisch fortentwickelnde Spiralen. Denn die Kausalitätsketten kehren nicht kreisförmig in ihren Ursprung zurück, sondern schaffen fortschreitend stets Neues, entwickeln sich weiter, schaffen anderes — spiralförmig fortschreitend.

Wieso suchen wir dann so vehement nach einem absoluten Anfang? Nach unserer beschränkten Erfahrung — und das ist alles, was wir als Menschen einbringen können — erscheint es nicht folgerichtig, von einem absoluten Anfang auszugehen. Wenn wir nach einem Anfang suchen — der, wohlgemerkt, einen willkürlichen Bewertungsvorgang unseres Bewusstseins darstellt — so sollten wir diesen jeweils als einen qualitativen Sprung verstehen. Entspringt dem Samenkorn im Boden ein frischer Trieb, so zeigt sich in der Entwicklung des Samenkorns ein qualitativer Sprung. Wandelt sich die Knospe dieser Pflanze zur prachtvollen Blüte, treibt die Blüte den Samen aus, den schließlich der Wind fortträgt, damit er eine neue Pflanze hervorbringe, so liegt darin jeweils ein qualitativer Sprung in der Entwicklung einer Pflanze. Ein qualitativer Sprung liegt also vor, wenn sich viele kleine Entwicklungsschritte schließlich derart summieren, dass der neue Zustand im Vergleich zum vorhergehenden Zustand etwas deutlich anderes und nicht nur eine kleine Modifikation darstellt. Ein qualitativer Sprung ist der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
[...]





Glückseligkeit

Glück kann nicht ewig sein. Es wird immer nur empfunden, wenn ein Zustand sich von einem subjektiv schlechter empfundenen in einen subjektiv besser empfundenen Zustand wandelt. Im Zeitpunkt des Wandels oder im Prozess dieses Wechsels empfindet man Glück. Doch weicht das Hochgefühl nach einer kurzen Phase der Gewöhnung an das auslösende Ereignis zunächst einem Zustand allgemeinen Wohlbefindens, bis es schließlich nach weiterer Zeit zur angenehmen Normalität herabsinkt.

Der Wunsch, immer glücklich sein zu wollen, ist daher töricht, sofern damit ein stetes Hochgefühl des Glücks gemeint ist. Wer dieses Ziel ernsthaft verfolgt, der macht sich mit Sicherheit unglücklich.

Widerspräche nicht auch ein dauerhafter Glückszustand dem Vorkommen in der Natur, wäre naturwidrig und liefe grundlegend dem alles durchdringenden Programm der Evolution zuwider?

Die Welt ist nicht statisch. Dann wäre sie erstarrt. Ein Blick in eine Ein-Amplitudenwelt wäre der Blick auf eine Momentaufnahme, die in Ewigkeit verharrend den Jetzt-Zustand anzeigen und perpetuieren würde. Ein-Amplitudenwelt heißt hier: ein immer gleich empfundener Glückszustand auf einem unveränderten Intensitätsniveau. Es wäre wie eine Zeitlupenaufnahme, die zwar ein sensationelles Motiv enthalten könnte; dieses ist jedoch in der Zeit eingefroren und hinsichtlich jeder Weiterentwicklung gehemmt. Eine langweilige Ein-Ton-Symphonie.

Fraglich wäre natürlich, wie es überhaupt zu einer solchen Momentaufnahme kommen könnte. Wäre die Welt zu allen Zeiten statisch, so könnte nie eine andere Momentaufnahme entstehen als die des absoluten Nichts. Nur wenn die Welt vor der Momentaufnahme nichtstatisch gewesen ist, wäre ein solches Bild eines erstarrten Jetzt-Zustands möglich.

Unsere Welt beruht aber auf Bewegung und Veränderung. Insbesondere die Evolution beruht auf Wechsel und Dynamik. Und zwar dauerhaft. Leben ist Wechsel, ist Bewegung, ist Austausch. Leben ist nur durch ein dauerhaftes, organisiertes Hinzufügen und Hinwegnehmen denkbar. Der Blutkreislauf befördert ständig neue Nährstoffe zu jeder Zelle und transportiert verbrauchte Stoffe laufend ab. Ein Prozess dauerhafter Wandlung, ein Prozess des Gebens und Nehmens. Ein Prozess des Aufbauens und Tötens, des Gebärens und Sterbens. Und diese Wandlungsprozesse belebter Materie finden ihren Spiegel, ihre Resonanz in der unbelebten Materie. Hier finden laufende Wandlungsprozesse statt.

Auf der atomaren Ebene wechseln Elektronen bei unterschiedlichen Temperaturen in verschiedene Energiezustände und geben dabei laufend Energie ab oder nehmen Energie auf. Nur durch solche Prozesse ist Veränderung überhaupt möglich. Die Naturgesetze erzwingen solche Veränderungen, so dass diese auch laufend stattfinden müssen.

Gehen wir weiter auf die Ebene der Energiequanten, der Photonen, letztlich des sichtbaren Lichts, so werden wir gewahr, dass auch diesen keine Geradlinigkeit innewohnt, sondern dass diese sich in Wellen, also laufend alternierend und damit nicht linear fortbewegen. Darüber hinaus wechseln sie sogar ihren Zustand, ihren Charakter. Je nach Versuchsaufbau werden sie als Welle oder als Teilchen wahrgenommen. Ja, nach neuesten Versuchen können sie sogar gleichzeitig als Welle und Teilchen identifiziert werden. Die Alternation, die Wandlung, der Wechsel ist damit ein Grundprinzip der uns umgebenden Welt. Sie zeigt sich in der Zeit; ja, erst Bewegung macht die zeitliche Dimension überhaupt sichtbar! Aber vielleicht zeigt sich auch die Zeit erst in der Wandlung. Vielleicht ist die Zeit als solche durch Wandlung und Bewegung bestimmt und bedingt. Statische Zustände gibt es nicht dauerhaft. Dieses Grundprinzip der Wandlung ist gleichsam ein Naturgesetz, ohne dass man es den klassischen, das heißt bisher bekannten Naturkräften, wie beispielsweise der Schwerkraft, wird zuordnen können. Es liegt dem grundlegenden Prinzip der Selbstorganisation zugrunde, das die neuere Forschung als einen wesentlichen Faktor für die Prozesse der Evolution und des Kosmos erkannt hat.

Kehren wir zurück zum Postulat einer dauerhaften Glückseligkeit, so sehen wir, dass diese auf der Basis der Naturgesetze der uns bekannten umgebenden Welt nicht möglich ist.

Glück ist der Ausschlag der Amplitude nach oben. Kommt der glückselige Moment, und er kommt zwangsläufig, naturgemäß, bei jedem, dann sollte man ihn genießen und schätzen, aber nicht krampfhaft verewigen wollen. Es wird uns kaum gelingen. Da aber Glück eine Empfindung ist, ist sie subjektiv und höchst persönlicher Natur. "Was des einen Glück, ist des anderen Leid" lautet ein Sprichwort, das zunächst die Spiegelbildlichkeit von Glück und Unglück ausdrücken will. Aber es kann auch auf einen einzelnen vergleichbaren Vorgang angewandt werden. Was der eine als Glück ansieht, kann vom anderen als Unglück empfunden werden. Steigt ein Aktienkurs unerwartet sprunghaft an, so freut es den Verkäufer und ärgert den Käufer. Der Vorgang ist objektiv der gleiche, wird jedoch konträr empfunden.

Glück entsteht durch die Bewertung in unserem Bewusstsein, und diese Bewertung ist eine Einschätzung und damit einer Beeinflussung zugänglich.

Wenn wir des Lebens Schicksalsweg nicht als eine geradlinige Strecke von Geburt bis Tod begreifen, sondern uns diesen als einen wellenförmigen Weg - ähnlich den Lichtwellen - vorstellen, so sind wir über unsere subjektive Bewertung in der Lage, den Grad der Glücksempfindung zu beeinflussen. Wir bestimmen - mit unserer eigenen Bewertung - die Glücksschwelle, den Nullpunkt auf der Glücksskala zwischen negativ empfundenem Unglück und positiv empfundenem Glück.

Die von uns subjektiv vorgenommene Justierung entscheidet, neben dem tatsächlichen Schicksalsverlauf, ob wir ein tendenziell glücklicher oder tendenziell unglücklicher Mensch sind. Wenn wir nicht an eine völlig ausgeglichene höhere Gerechtigkeit glauben, so stellen wir uns den Schicksalsweg nicht als eine mathematisch gleichförmige, harmonische Sinuswelle, sondern als eine durch unregelmäßige, unterschiedlich hohe Ausschläge charakterisierte Welle vor, die aber immer noch die Eigenschaft hat, Wellentäler und Wellenspitzen zu haben. Nach jeder Spitze folgt ein Tal, nach jedem Tal eine Spitze. Alleine wie hoch der Unterschied ist, bleibt uns für die Zukunft unbekannt. So können Wellentäler flach, aber auch dramatisch verlaufen. Die Glücksschwelle jedoch bestimmen wir.

Mitunter bestimmen wir sie für verschiedene Lebensphasen, manchmal sogar schon für unterschiedliche Situationen neu. Schon der Erwachsene kann oft nicht mehr nachvollziehen, warum bestimmte Dinge bei ihm als Teenager heftige Glücksgefühle auslösten. Über eine einfache Graupensuppe als Hauptspeise in einem Fünf-Sterne-Hotel ärgern wir uns maßlos, während es auf der Almhütte nach siebenstündiger Wanderung für uns das "beste Gericht der Welt" sein kann. Eine sensationelle Wettkampfzeit bei einer nationalen Meisterschaft kann, selbst wenn sie wenig später bei einer Olympiade noch übertroffen wird, beim gleichen Sportler Freudentaumel und dann wieder tiefste Enttäuschung hervorrufen, wenn nämlich andere Sportler noch bessere Ergebnisse liefern. Glückseligkeit hängt damit mit den subjektiven Erwartungen des Einzelnen zusammen. Unterschiedliche Erwartungen sind nichts anderes als verschiedene Justierungen der persönlichen Glücksamplitude.

Aber auch für die Vergangenheit können wir über Erinnerung und Bewertung unsere persönliche Glücksschwelle beeinflussen. Rückwirkend können wir so Täler (aber auch Spitzen) glätten. Wir können gleichsam Glücksgefühle - leider auch Hassgefühle - in unsere Vergangenheit "einwirken".

Mit diesen konstruktivistischen Mitteln ist der Mensch in der Lage, subjektiv ein tendenziell glückliches Leben zu führen. Ein solches Streben ist sinnvoll und von Erfolg gekrönt. Das Bewusstsein kann damit die objektiven beziehungsweise durch das soziale Umfeld definierten Maßstäbe überwinden und für sich passend und damit persönlich definieren. Es kann so die subjektiv empfundene Realität nachhaltig beeinflussen. Dies ist ein schöpferischer Prozess, der das Bewusstsein in gewisser Weise von der materiellen Welt abkoppelt. Ein Akt menschlicher Freiheit!

Dieser Prozess geht tendenziell auch in Richtung des bereits erwähnten singulären Bewusstseins. Wir schaffen uns unser persönliches Glücksempfinden als Teil unserer eigenen singulären Welt.

Dieser ganze Beeinflussungsprozess geht natürlich auch umgekehrt. Eine derartige Symmetrie der Ereignisse scheint im Übrigen auch den Naturgesetzen innezuwohnen. Wie wir die Glücksschwelle herabsetzen können, um tendenziell mehr und häufiger Glück zu empfinden, so können wir sie auch heraufsetzen, so dass wir nur noch ausnahmsweise und äußerst selten Glück empfinden. Verwöhnte wie auch ehrgeizige Menschen neigen dazu. Wer nur die höchsten Ansprüche an sich stellt, wird möglicherweise - vielleicht sogar zwangsläufig - blind gegenüber den kleinen Glücksfällen des Alltags. Dies ist sehr schade und wer dies erkennt und für sich auch umsetzen kann, zieht hieraus hohen persönlichen Gewinn. Da die Menschen soziale Wesen sind, orientieren sie sich in ihrer Glücksempfindung sehr stark an den Mitmenschen. Was kollektiv als Glücksfall akzeptiert ist, wird auch subjektiv eher als Glück empfunden. Umgekehrt, was kollektiv nicht als Glück erkannt wird, hat es auch schwerer, beim Individuum als solches identifiziert zu werden. Somit kommen wir auf die übergeordnete Ebene des gesellschaftlichen Glücksempfindens. Dies ist beeinflussbar und wandelbar. Dieses ist weiterhin von Land zu Land, von Kultur zu Kultur und in der Zeit unterschiedlich. Während ein Umweltförderer in Deutschland es als Glück empfinden würde, den Bau eines Atomkraftwerks verhindert zu haben, ist der Russe im weiten Sibirien froh und dankbar, wenn ein solches Kraftwerk errichtet wird, um ihm seine Wohnung zu heizen, während einen Fischer in Afrika diese Thematik eher "kalt" lässt und er es schließlich als Glück empfindet, wenn er endlich seine unzureichenden Fangutensilien gegen das ersehnte moderne Fischernetz austauschen kann.

Anlässlich dieser Erörterungen können wir uns jetzt auch zwei extreme Situationen vorstellen:
Einmal können wir die Glücksschwelle so weit heraufsetzen, dass es unmöglich ist, überhaupt Glück zu empfinden. Ein bedauernswerter Zustand. Zum anderen können wir sie so niedrig setzen, dass alles zum Glück wird. Das bedeutet zum Beispiel, dass schon die reine Existenz des Seins, das eigene Leben als solches, als Glück empfunden wird.

Haben wir damit also doch noch einen Weg gefunden, einen Dauerzustand von Glück zu erreichen?
Theoretisch ja. Die Frage ist nur, ob es sich hier noch um einen ehrlichen Bewertungsvorgang handelt. Die Glücksschwelle ist keine mathematisch beliebig einstellbare Messlatte, sondern das Ergebnis eines laufenden, im menschlichen Leben auch häufigen Änderungen unterworfenen Bewertungsvorgangs, der aus den bisherigen Erfahrungen und den umgebenden, insbesondere gesellschaftlichen Einflüssen gewonnen wird. Ehrlicherweise wird er sich immer in einem Mittelbereich des bisher Erlebten abspielen. Der eigentliche Bewertungsvorgang liegt nun darin, ob sich das individuelle Bewusstsein für den oberen, mittleren oder unteren Teil dieses Mittelbereichs entscheidet. Dies alleine unterliegt im Normalfall seiner Disposition.

In besonderen Ausnahme- und Schicksalssituationen mag dieser Dispositionsrahmen im Einzelfall erweitert sein. Man denke an das Glas Wasser für einen Verdurstenden, das in diesem Moment das größte Glück darstellen dürfte. Eine solche extreme Amplitudenverschiebung spielt sich aber schon kurzfristig auf das individuelle Normalmaß ein. Hat der Verdurstende ausreichend getrunken und ist er wieder gestärkt, so ist ein danach gereichtes Glas Wasser kein Auslöser eines solch extremen Glückszustandes mehr.

Nach all diesen Erörterungen gelangen wir nun zu einer Überzeugung, die unsere Vorfahren schon in einer schlichten Alltagsweisheit ausgedrückt haben: "Ein jeder ist seines eigenen Glückes Schmied."